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Drei Perspektiven – Vielfalt des Wissens

EX-IN Qualifikation zur Genesungsbegleitung und Angehörigenbegleitung

Ein längst fälliger Schritt- Peerarbeit in Deutschland

Ein Artikel von Gyöngyvér Sielaff

Entwicklungslinien

Das Anliegen, Psychiatrie-Erfahrene in die Versorgung von Menschen in Krisen und in die Ausbildung von Mitarbeitenden in der Psychiatrie einzubeziehen, trägt der Annahme Rechnung, dass jedes Wissen seinen Anfang in Erfahrungen hat. Darauf baut alles Weitere auf. Patient:innen als Erfahrene zu betrachten, sie als Expert:innen nicht nur in eigener Sache, sondern auch als hilfreich für andere anzusehen, hat im deutschsprachigen Raum seit der Entwicklung trialogischer Formen der Zusammenarbeit Tradition. Mit der Experienced-Involvement-Bewegung (EX-IN) setzt sich die wissenschaftlich vielfach belegte Erkenntnis durch, dass subjektive Konzepte, Einstellungen und Bewertungen sowie die individuellen Bewältigungsstrategien für Genesung und Recovery wertvoll und wichtig sind und somit Basis aller weiteren Interventionen sein sollten. Außerdem wird deutlich, dass die Erfahrung einer psychischen Erkrankung für die betroffene Person nicht nur Leid und Verzweiflung bedeutet, sondern auch zu einer besonderen Sensibilität und einem vertieften Verständnis menschlicher Entwicklungen führen kann. Dies kann in anderen, überindividuellen Kontexten hilfreich und nützlich sein: im persönlichen Austausch, in Selbsthilfegruppen und eben auch bei bezahlter psychosozialer Arbeit.

In Hamburger EX-IN-Projekten – ursprünglich von 2005 bis 2007 ein Pilotprojekt der Europäischen Union – werden seit fünfzehn Jahren die Erfahrungen und Erkenntnisse von Psychiatrie-Erfahrenen in den Mittelpunkt gestellt. Um Menschen, die eine schwere psychische Krise durchlebt haben, als Dozent:innen oder Mitarbeitende für psychosoziale Dienste zu qualifizieren, wurden Curricula, Lehrmaterialien sowie Lehr- und Lernstrategien entwickelt.

Nachdem das EU-Projekt beendet war und bereits die ersten Pilotkurse in Hamburg und Bremen durchgeführt wurden, war die Resonanz auf das EX-IN-Programm überraschend stark und die Nachfrage nach EX-IN-Qualifikationen so groß, dass entsprechende Angebote schon bald über die Grenzen Hamburgs und Bremens hinaus verbreitet werden konnten.

Um die Verbreitung von EX-IN in Deutschland, der Schweiz und Österreich zu fördern und vermehrt Kurse anbieten zu können, die auch die Besonderheiten der jeweiligen Regionen berücksichtigen, wurden Kurse zur Qualifikation von Ausbildern entwickelt und umgesetzt.

Partizipation

Entscheidend für den Erfolg und Nutzen von Peerarbeit ist der Einsatz von Peers entsprechend ihrer besonderen Fähigkeiten und nicht als Aushilfskräfte. Aus diesem Grund beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe von EX-IN Deutschland e.V. mit Qualitätsstandards für den Einsatz von Genesungsbegleiter:innen in psychiatrischen Diensten und Einrichtungen. Dabei ist ein Ziel, mehr Stellenbeschreibungen zu entwickeln, in denen die Besonderheit der Peerarbeit zum Ausdruck kommt. Dies soll es Arbeitgeber:innen ermöglichen, sich ein klares Bild von den Fähigkeiten und Kompetenzen von Erfahrungsexpert:innen zu machen und sie entsprechend ihrer Qualitäten einzusetzen. Bei den Qualitätsstandards geht es auch darum, die organisatorischen Bedingungen sicherzustellen, damit Peerarbeit ihr Potenzial voll entfalten kann. Hierzu gehört, dass mindestens zwei Genesungsbegleiter:innen in einem Betrieb beschäftigt werden, um den Fokus bei der Innovation nicht nur auf eine Person zu richten. Zudem ist wichtig, dass Erfahrungsexpert:innen eine eigene Supervision erhalten, um zu ermöglichen, dass die Eigenständigkeit des Ansatzes auch erhalten bleibt. Gerade wenn sie neu in eine Einrichtung kommen und ihre Peer-Identität nicht auch strukturell unterstützt wird, können Erfahrungsexpert:innen sich oft nur schwer gegenüber den bereits vorhandenen Berufsgruppen behaupten und übernehmen tradierte Rollen, Haltungen und Methoden.

In Hamburg werden bereits seit 15 Jahren Genesungsbegleiter:innen qualifiziert. Mit den zahlreichen Genesungsbegleiter:innen, die seit Jahren sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Sozialpsychiatrie tätig sind, ist EX-IN in Hamburg ein Politikum geworden. Einrichtungen, die psychisch erkrankte Menschen begleiten, nehmen die Beschäftigung von Genesungsbegleiter:innen in ihre strukturelle und inhaltliche Ausrichtung auf. Hier findet ein wichtiger Prozess statt. Durch die Zusammenarbeit entsteht auch ein Paradigmenwechsel in der Haltung der Mitarbeitenden und es werden Vorstellungen verändert, worauf es bei der Begleitung von Menschen in Krisen ankommt. Eine schwierige oft widersprüchliche Zeit und eine Energie absorbierende Entwicklung, die niemals gradlinig verläuft. Das Ringen und die Mühe lohnen sich aber allemal.

Durch die EX-IN Qualifikation entsteht ein erfahrungsbasiertes Fachwissen, das die theoretische Grundlage der Genesungsbegleitung bildet. Das Curriculum wird immer wieder auf seine Aktualität hin überprüft und durch die Erfahrungen und Vorschläge der inzwischen zahlreich arbeitenden Genesungsbegleiter:innen ergänzt. EX-IN ist eine lebendige Bewegung, die die traditionelle Psychiatrie ergänzt, bereichert und manchmal auch in Frage stellt.

Nicht zuletzt durch die Weiterentwicklung EX-IN für Angehörige wurde der Erkenntnis Rechnung getragen, dass eine moderne Psychiatrie ohne die Perspektive und Beteiligung der Erfahrenen und Angehörigen nicht mehr auskommt. Sie ist durch fachliche Begleitung nicht zu ersetzen. Seit einigen Jahren erproben Angehörigenbegleiter:innen in der ambulanten und stationären psychiatrischen Landschaft von Hamburg die Idee, dass es ein großer Gewinn für Angehörige sein kann von geschulten Angehörigen bei ihren Lebensprozessen begleitet zu werden. Die Angehörigenbegleitung vervollständigt die Hilfen für Familien mit seelischen Erkrankungen und stellt die persönliche und individuelle Lebenssituation der Angehörigen in den Mittelpunkt. Bisher wurden die Angehörigen eher als „Anhängsel“ und nicht als eigenständige Personen mit eigenem Lebensentwurf wahrgenommen. Gerade dort, wo psychisch Erkrankte in ihrem Alltag begleitet werden, wäre ein Gesprächsangebot für betroffene Angehörige sinnvoll und hilfreich. Über Kummer, Zweifel und auch Wut in einem intimen Gesprächsrahmen sprechen zu können und sich dabei der Solidarität des Gegenübers sicher sein zu können, verhilft zu der Zuversicht, die Angehörige so dringend brauchen. Damit sie sich aus der Erstarrung und Fixierung auf das Leid allmählich lösen können und ihr eigenes Leben wieder entdecken. Allein auf sich gestellt, schafft dies kaum jemand. Diese Erkenntnisse sind Angehörigen zwar theoretisch vertraut, aber um sie auch leben zu können, brauchen sie eine solidarische und verbindliche Unterstützung. Die Mitarbeit von Angehörigen in der Psychosozialen Versorgung sollte in Zukunft selbstverständlich sein. Ihr Wirkungskreis könnte noch über die Psychiatrie hinaus, in die Alltagsbewältigung der Familien gehen.

Sowohl in der stationären als in der ambulanten Psychiatrie verändert sich durch die Mitarbeit der Genesungsbegleiter:innen und Angehörigenbegleiter:innen spürbar und auch nachweisbar die Atmosphäre, was den Patient:innen aber auch dem Fachpersonal und den Angehörigen zugutekommt und genesungsfördernd wirkt. Hier wirken die Genesungsbegleite:innen und Angehörigenbegleiter:innen als »Brückenbauer:innen«, Übersetzter:innen und Hoffnungsträger:innen. Auch für die fachlichen Mitarbeitenden könnte die Erweiterung des Kollegenkreises durch Genesungsbegleiter:innen eine neue Perspektive mit sich bringen. Das eher rigide Rollenverständnis, es sei nicht professionell, das eigene Leid und die eigene Krisenerfahrung zu benennen, wird in Frage gestellt. Hier ist bisher leider eine scharfe Trennung zu spüren. Wer sich dieser Auffassung nicht anpasst, gerät in Gefahr, nicht als professionell wahrgenommen zu werden.

Es ist vielmehr so, dass die eigenen Verletzbarkeiten und deren Bewältigung von den Profis in der Psychiatrie die fachliche Begleitung vertiefen, das menschlich Verbindende erst möglich machen und somit in diesem Sinne selbstverständlich an den Arbeitsplatz gehören. Bei diesem Prozess können die Genesungsbegleiter:innen Mut machen.

Möglich wird das, wenn die EX-IN‘ler:innen ein eigenes Profil ihrer Arbeit entwickeln und durch Supervision auch weiterentwickeln. Sonst lauern einige Fallstricke auf dem Weg: der Professionalisierungsdruck, die mögliche Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch das Fachpersonal. Durch Schulung und Supervision können die EX-IN’ler:innen in solchen Situationen sensibilisiert und gestärkt werden. Sie leisten dann einen wichtigen Beitrag für die Betroffenen, der aufgrund ihrer einzigartigen Perspektive unersetzlich ist. Die Mitarbeit von Betroffenen und Angehörigen in der Psychosozialen Versorgung sollte in Zukunft selbstverständlich sein.

Lest mehr über die EX-IN Qualifikationen in Hamburg unter den Links unten auf dieser Seite oder wendet Euch direkt an: kurse@ex-in-hamburg.net