Zum Inhalt springen

Eine würdevolle Ausbildung

Dieser Text ist die Niederschrift einer Rede, die Martin Wieser am 7.12.2019 zu Ehren von Gyöngyvér Sielaff bei ihrem Symposium mit dem Titel „Die Würde des Miteinanders“ hielt. 

„Als ich meine Ausbildung zum EX-IN-Genesungsbegleiter in Hamburg begann, hatte ich bereits eine ordentliche Ausbildung, mein Studium und eine gutbezahlte Anstellung als Bürokaufmann jeweils wegen verschiedenen psychischen Krisen aufgeben müssen. Während meine psychischen Krisen, die meinen beruflichen Werdegang mit unzähligen Brüchen versehen hatten, einer beruflichen Bildung oder Anstellung oft im Wege standen, war dies dazu im Gegensatz jetzt eine Ausbildung, in der meine Krisen-Erfahrungen erst die Türen öffnete.

Das schon bedeutet eine ungeheure Würdigung: Meine Erfahrung als Psychiatrie-Betroffener ist von Wert und Interesse und kein Mangel oder ein Ausschlusskriterium.


Viele von uns Teilnehmerinnen kannten Ausschluss und Momente der Isolation sehr gut. Nun ließen wir uns auf ca 20 weitere Menschen, ihre Erlebnisse und Geschichten ein, und wussten noch nicht, ob wir dem gewachsen sind. Wir lernten von unseren Erfahrungen so zu berichten, dass ihr Wert darin sichtbar wird. Wir lernten, einander mit Interesse zuzuhören. In unzähligen Dialogen, Referaten und Gruppenarbeiten lernten wir, das Wertvolle unserer Erfahrung überhaupt erst zu bergen und entwickelten darüber ein Selbstbewusstsein, das uns ermöglichte, zu unseren Erfahrungen mit psychischen Krisen und der Psychiatrie zu stehen.

Das war ein anderes Moment von Würde: Die Möglichkeit sich gegen Widrigkeiten und Stigmata grade zu machen und zu bestehen.


Jedes Wochenende der Ausbildung begann damit, dass wir der Reihe nach einander erzählten, mit welchen Themen wir beschäftigt waren, während wir nun da saßen. Wir nahmen einen roten Wollknäul in die Hand und warfen es der nächsten zu,
wenn wir jeweils mit unserer Auskunft fertig waren.

Ganz am Ende hatte sich so zwischen uns allen ein Netz gebildet, dass wir dann gemeinsam hochhielten und unter das wir unsere Wünsche und Erwartungen für das Wochenende noch in Stichworten in der Raum gaben. Jede von uns wurde mit ihren Wünschen und Themen sichtbar und war Teil des Netzwerkes, das unser Kurs bedeutete.

Wir konnten wahrnehmen, dass wir nicht allein sind. Wir ließen den Vielklang unserer Gruppe real werden. Wir würdigten uns als eine Gruppe und durften auch erkennen, dass wir ohne die anderen eigentlich nicht ganz sein können.


Nachdem wir an einem Tag oft schon Stunden vom gleichen Platz aus in die Runde geblickt hatten, tauschten wir am Ende eines Tages, ganz nach belieben den Sitzplatz im Raum. Wir sagten der Reihe nach, was wir an dem Tag gelernt hatten, was uns jeweils noch beschäftigte und worauf wir uns in den kommenden Tagen freuten.

Den Platzwechsel erlebte ich immer als einen ganz körperlich eingeübten Perspektivwechsel, den ich am Ende des Tages auch immer gut gebrauchen konnte, weil in ihm zum Ausdruck kam, wie wertvoll es ist, beweglich zu sein.


Die Arbeitsaufgaben der Ausbildung folgten oft dem gleichen Ablauf.

Zunächst sollten wir in einer Ich-Übung die Fragestellung mithilfe unserer Erfahrung, einer Selbstbefragung, erarbeiten, dann unterhielten wir uns mit einer anderen Teilnehmerin zu zweit darüber in einem Dialog, um schließlich in einer Gruppenarbeit aus dem Vielfältigem zu abstrahieren und die Ergebnissen den Anderen vorzustellen.

Wir übten uns darin, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen und den Vielklang wie die möglichen Widersprüche gleichberechtigt gelten zu lassen. Es ging nicht darum, Recht zu behalten, sondern vielmehr darum, nachzuvollziehen und anzuerkennen, was andere zu einem Thema zu sagen haben.

Wir wurden aufeinander neugierig. Auf eine anerkennende Weise.
In dieser Anerkennung würdigten wir unser eigenes Wissen und das unserer Mitstreiterinnen. Dabei erhielten wir, ganz außerordentlich für eine Ausbildung, nie Mengen an Informationen und Input, sondern sollten mit den gegebenen Impulsen aus unseren Erfahrungen heraus, zu einem gemeinsamen Wissen gelangen.


Die Ausbildung bot die entsprechenden Rahmen für unsere Auseinandersetzung mit relevanten Themen wie z.B. Salutogenes, Recovery und Empowerment. So erlebte ich die Ausbildung immer als eine, die wesentlich in unsere Hände gegeben war. Nie erlebte ich die Ausbildung als eine, die vorgefertigten Zwecken diente und allein diese erreichen musste. Unser Wissen war ein Selbstzweck und keiner von uns musste sich zu einem bloßen Mittel degradiert fühlen.

Hier finde ich den erstaunlichsten Moment der EX-IN-Ausbildung in Hamburg: Denn Menschenwürde bedeutet aus einer philosophischen Perspektive, dass Menschen nicht zu einem Instrument gemacht werden.

Dabei ist nichts dagegen einzuwenden, dass wir alle eine Arbeit anstrebten, in der wir uns hilfreich für andere erleben dürfen. Und wir erwarteten von der Ausbildung, dass wir darin auch kompetent werden. Der Wunsch hilfreich zu sein, hat aber auch seine Fallstricke. In einer Übung, in der wir in einem selbst ersonnenen Rollenspiel zeigen sollten, dass jeder Verantwortung übernehmen kann, gab die Gruppe, zu der ich gehörte, folgendes zum Besten:

Wir saßen alle in einem U angeordnet nebeneinander. An einem Ende sagte eine Person, dass sie Durst habe. Prompt schüttete ich an dem anderen Ende des U stehend ein Glas Wasser ein und ließe es von mir durch alle Hände der im U
sitzenden Teilnehmerinnen zu der anderen Person weiterreichen. Als das Glas dort ankam, sagte ich für unsere Gruppe: „Hiermit ist bewiesen: Jeder kann Verantwortung übernehmen!“ Gyöngyver [Sielaff, EX-IN-Ausbilderin in Hamburg, Anm. d. Verfassers] fragte schlicht: „Warum konnte sie sich das Wasser nicht selbst einschenken?“

Wenn wir hilfreich sein wollen, können wir leicht vergessen, wie sehr es mit der Würde zu tun hat, Dinge ohne fremde Hilfe zu schaffen. In dieser Übung wurde mir das deutlich und ich verstand, dass wir nicht auf eine Weise hilfreich sein dürfen, die
andere hilflos macht.


Wenn es um das würdevolle der EX-IN-Ausbildung geht, muss ich nun zuletzt noch von der Übung berichten, in der wir aufgefordert waren, selbst einen Menschen zu würdigen, der in unseren Krisen und deren Bewältigung an unserer Seite war. Wir genesen nie allein, jede von uns kannte Menschen, die für uns hilfreich waren.

Die Übung brachte uns selbst ins Spiel: Wenn wir während der Ausbildung erfahren durften, wie gut es uns tut, dass unsere Erfahrung von wert ist und dass unsere Lebenswege Anerkennung verdienen, dass wir immer in Bewegung bleiben, solange
wir leben, und dass jeder Verantwortung übernehmen kann, verstand ich die Übung nun so, dass auch ich eine besondere Würde erhalte, indem ich Menschen, die mich begleiteten, würdigte. Nicht zuletzt durch diese Übung wurde die Menschenwürde für mich zu etwas Konkretem.

Wir können alle die Menschenwürde unserer Mitmenschen real werden lassen.

Es braucht vielleicht nicht viel mehr als unseren Gegenüber zu würdigen.

Hierzu fühlte ich mich dann auch immer in meiner Arbeit eingeladen: mein Gegenüber zu würdigen.

Und diese Einladung spreche ich heute nun auch an Sie alle aus. Denn es stimmt: keiner von uns genest allein; und wer würdigt, heilt – im doppelten Wortsinn.“